90 Jahre schlesische Nadelspitzen -
eine Erfolgsgeschichte
Die trostlose Lage der schlesischen Weber verschlimmerte sich im 19. Jahrhundert von Jahrzehnt zu Jahrzehnt durch Arbeitslosigkeit, Missernten, Hungertyphus und Verschuldung, so dass sich die preußische Staatsregierung gezwungen sah, mit Hilfsmaßnahmen einzugreifen. Sie schloss im Januar 1855 mit dem Berliner Spitzenhändler Johann Jakob Wechselmann, der bereits in Belgien Kenntnisse und Erfahrungen in der Spitzenindustrie gesammelt hatte, für fünf Jahre folgenden Vertrag ab: Er verpflichtete sich, zunächst im Hirschberger Kreis mindestens zwölf Spitzenschulen einzurichten und zu erhalten, auskömmlichen Lohn zu zahlen und die Schülerinnen bereits beim Eintritt in die Schule ihrer Leistung entsprechend zu entlohnen. Die preußische Regierung gewährte ihm ein zinsloses Darlehen von 10000 Talern und einen jährlichen Zuschuss in Höhe von 1800 Talern. König Friedrich Wilhelm IV. übersandte sogar als persönliches Geschenk 500 Taler zur Förderung dieses neuen Industriezweiges.
Schon drei Monate später gründete Wechselmann drei Spitzenschulen, deren Arbeiterinnen und Schülerinnen jeweils von einer in Belgien angeworbenen Meisterin eingewiesen wurden. Weitere zwölf Schulen entstanden im Laufe der nächsten drei Jahre in den Kreisen Hirschberg und Löwenberg. Er beschäftigte 1859 bereits 1400 Arbeiterinnen, die von belgischen und nun auch böhmischen Lehrerinnen unterrichtet wurden. Die Oberaufsicht führte eine in Hirschberg lebende Vertreterin Wechselmanns. Sie verteilte die Aufträge an die einzelnen Schulen und leitete die abgelieferten Waren nach Berlin weiter.
Nachdem die Regierung den Vertrag nur noch um drei Jahre verlängert hatte und danach weitere Subventionen ablehnte, änderte Wechselmann sein Verhalten. Er versuchte so viel Geld wie möglich aus dem Unternehmen herauszuschlagen, drückte die Löhne und unterließ die Heranbildung des Nachwuchses. Anschließend ging er nach Böhmen und überließ fast 2000 arbeitsfähige und arbeitswillige Spitzenarbeiterinnen ihrem mühseligen Los.
Bernhard Metzner, ein ehemaliger Musterzeichner Wechselmanns, wagte 1869 einen neuen Versuch mit zunächst vier Arbeiterinnen, deren Höchstzahl in den Jahren 1878-1880 fast dreihundert erreichte.
Metzner und seine Spitzen erhielten zahlreiche Auszeichnungen auf den großen internationalen Ausstellungen in Wien, London, Paris, München und Philadelphia.
Zu dieser Zeit öffnete sich Japan für die Kultur des Westens und kaufte 1876 die gesamte Metznersche Kollektion als Vorbilder für die eigene Produktion.
Auch der preußische Hof vergab Aufträge an Metzners „Schlesische Spitzenmanufaktur“. Kaiserin Auguste Viktoria bestellte 1889 den Brautschleier für ihre Schwester, der „vorzüglich ausfiel“ und weitere Aufträge auslöste.
Die Erfolge Metzners führten dazu, dass 1880 eine seiner Lehrerinnen, Marie Hoppe, mit ihrer Schwester, Bertha Weinhold, die ebenfalls bei Metzner gearbeitet hatte, das neue Unternehmen „Schlesische Spitzenschulen“ in Schmiedeberg mit Zweigstellen in den umliegenden Orten gründete. Durch Geschäftstüchtigkeit und Zähigkeit gelang es Marie Hoppe, wieder staatliche Unterstützung zu erhalten.
Die zu dieser Zeit wenig spitzenfreundliche Mode führte allerdings zu Absatzschwierigkeiten.
Gemeinsam mit ihrer Tochter, Margarete Siegert, die zwischenzeitlich eine Ausbildung an der Kunstschule Breslau als Musterzeichnerin absolviert hatte, verlegte sie 1904 das Unternehmen nach Hirschberg und firmierte als „Schlesische Spitzenschulen M. Hoppe & M. Siegert“. Ihre Produkte waren so hervorragend ausgeführt, dass sie den Namen „Hoflieferantin der Königin von Preußen“ erhielt.
1906 wagten zwei weitere Damen, Margarete Brandt und Hedwig Freiin von Dobeneck, den Schritt in die Selbstständigkeit. Ihr Ziel war die Entwicklung einer schlesischen Spitze besonderer Prägung. Mit Idealismus und Organisationstalent gründeten sie in Hirschberg „Schulen für künstlerische Nadelarbeiten“. Spitzen kamen wieder groß in Mode und durch die künstlerischen Ambitionen der Damen und die bessere soziale Absicherung der Beschäftigten florierte der Betrieb.
1909 wurde der „Deutsche Verein für schlesische Spitzenkunst“ mit dem Ziel gegründet, die im Riesengebirge heimische Spitzenindustrie in weiteren Kreisen bekannt zu machen. Drei Hirschberger Schulen schlossen sich in diesem Verein zusammen.. Als Protektorinnen des Vereins fungierten zeitweise Fürstin Mary Theresa von Pleß, genannt Daisy von Pleß, und Kronprinzessin Cecilie.
Im Jahre 1911 übernahm Fürstin Mary Theresa von Pleß, eine gebürtige Waliserin, die Schule Bardt-Dobeneck, die sie von nun an als „Spitzenschulen der Fürstin von Pleß“ in eine neue Richtung führte. Sie beabsichtigte, keine Imitate der Brüsseler Spitzen anfertigen zu lassen, sondern der schlesischen Nadelspitze mit Originalität und besonderer Qualität zu besonderem Ansehen zu verhelfen. Durch ihre engen Beziehungen zum deutschen Kaiser und zum englischen Königshaus hat sie die Entwicklung der Nadelspitzenindustrie im schlesischen Gebirge erfolgreich fördern und entwickeln können. Sie verfügte in kurzer Zeit über 14 Spezialschulen und eröffnete elegant eingerichtete Geschäfte in Hirschberg, Warmbrunn, Schreiberhau, Wiesbaden und Nauheim, sowie in den Großstädten Berlin, München, Hannover, Hamburg und Königsberg. Durch ihre ausgeprägte soziale und humanitäre Tätigkeit erwarb sie sich liebevolles Ansehen und große Achtung bei den Armen und den Arbeitenden und galt durchaus als Wohltäterin..
Mit dem Ausbruch des ersten Weltkrieges kam leider das Ende der großen Zeit der schlesischen Spitze, der Umsatz stieg nach Beendigung des Krieges zwar nochmals an, sank jedoch rapide mit Beginn der Inflation. Die Scheidung der Fürstin von Pleß im Jahre 1922 veränderte ebenfalls die Situation. Die Pleßsche Verwaltung hatte nicht mehr das gleiche Interesse an der Erhaltung der Schulen wie früher, so dass die Verantwortung wieder der Freiin von Dobeneck überlassen wurde und sie sich im Jahre 1935 gezwungen sah, die Schulen zu schließen.
Am längsten bestanden die Schlesischen Spitzenschulen Hoppe – Siegert, dort wurden bis 1945 Nadelspitzen hergestellt. Aber 1946 musste auch Margarete Siegert Hirschberg verlassen.
Allen Schwierigkeiten zum Trotz hat sich die schlesische Nadelspitze 90 Jahre behaupten können. In dieser Zeit hat sie vielen tausend Menschen ein zusätzliches Einkommen, manchem auch das tägliche Brot verschafft. Vielen Spitzenliebhabern hat sie große Freude bereitet, und es wäre zu wünschen, dass im Verborgenen noch manche Spitze existiert, die von der herrlichen Kunst des Spitzennähens im Riesengebirge erzählen kann.
Literatur:
Graff-Höfgen, Gisela: Schlesische Spitzen, München 1974
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