Historischer Hintergrund
In Görlitz etabliert sich etwa ab dem 13. Jahrhundert hauptsächlich das Tuchmacher-handwerk, d.h. die Herstellung von hochwertigen Geweben aus Schafwolle. Im Gegensatz zu anderen Städten der Region erlangt Görlitz eine relative Monopolstellung durch den hohen Qualitätsstandard, den die Tuchmacherzunft ständig kontrolliert, aber auch durch Zugeständnisse von Privilegien durch den Landesherren, wie das Waidstapelrecht (Waid ist das wichtigste Färbemittel zu dieser Zeit). Die vorteilhafte Lage an den großen Handels-straßen wie der Via Regia befördert den Fernhandel in viele Länder, in denen sich die Stadt durch die besonders feine Qualität der Tuche einen Namen macht. Um 1800 leben in der Stadt etwa 10 000 Menschen.
Görlitz wird preußisch
Als Kriegsfolge fällt die östliche Oberlausitz 1815 an Preußen. Görlitz wird der Provinz Schlesien zugeordnet und verliert seine alten Handelsverbindungen nach Sachsen und Böhmen. Die Tuchkaufleute knüpfen neue Verbindungen bis in den Balkan, nach China und den Orient. Das Geschäft lohnt sich aber nur, wenn ausreichende Mengen Tuche mit niedrigen Herstellungskosten verkauft werden können. Erfindungen zur Mechanisierung der Appretur, des Tuchscherens, Walkens und Wollspinnens leiten große Veränderungen ein. So entstehen mehrere Tuchfabriken an den Ufern der Neiße meist in Gebäuden ehemaliger Mühlen, wo die mechanischen Vorrichtungen mit Wasserkraft betrieben werden, wie die durch den Kaufmann Maurer in und neben der Dreiradenmühle am Ostufer der Neiße 1816 eingerichtete Wollspinnerei. Durch den vor allem durch die englische, französische und belgische Konkurrenz notwendigen Übergang von der handwerklichen zur maschinellen Produktion verlieren die alten „Berufsgruppen“ ihre Selbständigkeit und sind nun gezwungen, sich ihren Lebensunterhalt in Lohnarbeit an den neuen Maschinen zu verdienen.
Wachstum durch die industrielle Revolution
Die Brüder Bergmann und Krause kaufen an der Schanze und der Lunitz 1832 die alte Pulvermühle, in der sie eine Fabrik mit Spinnmaschinen, Walke und Appretur einrichten und den Grund legen für die spätere Tuchfabrik von Krause und Söhne. Es folgen die Fabriken der Brüder Geißler an der Uferstraße und Hotherstraße. 1833 gibt es bereits vier mechani-sche Spinnereien, vier Walken, drei Färbereien und zwei Appreturanstalten. Nur die Qualität der hausgewerblichen Tuchweberei kann bis Mitte des 19. Jh. durch Mechanisierung noch nicht erreicht werden, so dass die Wollweber unter großen Anstrengungen mit den bereits mechanisierten Arbeitsgängen mithalten müssen (Erst 1875 verschwindet der letzte Handwebstuhl). Sieben alteingesessene Tuchmachermeister bilden 1835 eine „Vereinigung zur Gründung gemeinsamer Unternehmungen mit Hilfe der Wasserkraft der Neiße“ und können dadurch dem Konkurrenzdruck standhalten. Nach dem Fall der Zollschranken 1834 wird die Durchsetzung der neuen Produktionsweise zur existenziellen Notwendigkeit, da das sächsische Textilgewerbe nun direkt mit den schlesischen Standorten konkurriert.
1836 geht die erste Dampfmaschine in der Fabrik der Brüder Bergmann und Krause in Betrieb. Görlitzer Tuche erhalten 1835 in Dresden und 1844 in Berlin Preise für ihre hervorragende Qualität. Mit dem Anschluss an das preußische und sächsische Eisenbahnnetz im Jahre 1847 eröffnen sich für die Textilwirtschaft noch größere Möglichkeiten.
Gründerzeit
Die Jahre zwischen 1860 und 1890 bringen der Stadt die größte Entwicklung. Die Einwohnerzahl steigt bis 1910 rasant auf etwa 86 000 Einwohner. Eine Tuchfabrik nach der anderen entsteht. Überall werden hohe Schornsteine errrichtet und Dampfmaschinen eingesetzt. Später wird die durch das 1895 errichtete Elektrizitätswerk am Ostufer der Neiße erzeugte Elektroenergie genutzt. Produziert werden feine und feinste reinwollene Herren-und Damentuche, Kammgarndrapes, Uniformtuche, Besatztuche, Paletots u.a. Durch die Abkehr der Abnehmer von einfarbigen Tuchen hin zu gemusterter Ware und die Verschlechterung der Exportverhältnisse gerät die hiesige Tuchfabrikation ab etwa 1890 in große Schwierigkeiten, die erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts einigermaßen überwunden sind.
Die Zeit des ersten Weltkrieges 1914-1918 und der Inflation
Der Ausbruch des ersten Weltkrieges vernichtet alle Hoffnung auf Besserung der Situation. Zwar können in der ersten Zeit die meisten Betriebe für Heereslieferungen beschäftigt werden, aber die Abschnürung vom Weltverkehr und damit die Unterbindung der Zufuhr sämtlicher textiler Rohstoffe bringen die Görlitzer Betriebe fast ganz zum Erliegen. Teils werden Stoffe sogar aus Papiergarnen für die Armee und Hospitäler gewebt. Nach dem Krieg kämpft die Textilindustrie um den Wiederaufbau, was ihr mit dem Anknüpfen an alte Verbindungen im In- und Ausland zunächst gelingt und die Weiterführung ihrer Betriebe ermöglicht. Viel Betriebskapital und Nervenkraft gehen in der anschließenden Inflationszeit 1923 verloren. Mit der Wiedereinführung längerer Arbeitszeit und rationellerer Arbeitsmethoden beginnt mit dem Jahr 1924 neue Hoffnung einzuziehen. Die auf etwa 1000 gesunkene Arbeiterzahl wird binnen kurzer Zeit wieder verdreifacht. Die Einwohnerzahl steigt bis 1930 auf etwa 95000.
Der zweite Weltkrieg 1939-1945 und die Folgen für die Görlitzer Textilbetriebe
Die Textilbetriebe arbeiten weitestgehend durch Aufträge für die Wehrmacht. Am Kriegsende leben in der Stadt nur noch 31 000 Menschen. Als Folge der Vertreibungen im Osten hat die Stadt im Jahre 1947 über 100 000 Einwohner zu versorgen. Die meisten der Tuchfabrikanten werden enteignet und die Betriebe in einem „Volkseigenen Betrieb“, dem VEB „Oberlausitzer Volltuchfabrik“ zusammengefasst bzw. umgenutzt wie der Betrieb der Gebrüder Hoffmann, in dem ein Transformatorenwerk eingerichtet wird. Die hergestellten Tuche bleiben sowohl im Osten, als auch im Westen eine begehrte Ware.
Das plötzliche Wegbrechen des Ostmarktes und die Umorientierung der bisherigen Kunden aus dem Westen (z.B. Neckermann) auf den noch billigeren Ostasiatischen Markt führen auch in Görlitz zum Zusammenbruch der Textilindustrie viele Betriebe werden geschlossen. Die sechs Betriebsteile der VEB "Oberlausitzer Volltuchfabrik" arbeiten noch bis zu Liquidierung im November 1993 als "Görlitz Tuche GmbH".
Tausende ausgebildete Textil-Fachleute, hauptsächlich Frauen, werden nicht mehr gebraucht.
Hoffnungsvolle Neuansiedlung 1995
Staatliche Fördermittel, die „freigesetzten“ gut ausgebildeten Textil-Fachleute und das niedrige Lohnniveau überzeugen einen Investor aus Amerika, hier seinen einzigen Zweig-betrieb zu gründen, um näher am europäischen Markt zu produzieren. So kommt es 1995 zur Neuansiedlung eines modernen Textilbetriebes im Gewerbegebiet „Ebersbach“ vor den Toren der Stadt. Die „Görlitz Fleece GmbH“ als Tochterfirma der amerikanischen Firma „Malden Mills“ produziert 10 Jahre lang mit etwa 300 Mitarbeitern erfolgreich Stoffe der weltweit begehrten Marke „Polartec“ bis zur Insolvenz 2004.
Im Jahre 2005 kommt es nach gescheitertem Verkauf zur Schließung des hochmodernen Werkes.
Damit ist die Jahrhunderte alte Tradition des Textilhandwerks in Görlitz beendet.
Literatur:
Kabus, Ronny (1975). Beiträge zur Geschichte der Görlitzer Arbeiterbewegung, V
Kretzschmar, Ernst (1983). Geschichten aus Alt-Görlitz
Stein, Erwin (1925). Monographien deutscher Städte, Band VIII Görlitz
© 2008/2009 Projektgruppe "TuchText" Görlitz (www.tuchtext.de)